Inhalt
Vorwort 5
Auf großer Fahrt 7
Das Lager 16
Die Entdeckung 21
Die Exkursion 36
Die Begegnung mit der Bande 45
Auf See 56
Das Lagerfest 62
Verhaftung und Polizeiverhör 65
Abschied vom Arendsee 69
Anhang Abbildungen 73
Auf großer Fahrt
Vollgestopft mit fröhlicher Jugend braust ein Zug der Deutschen Reichsbahn – wie die Züge in der DDR noch immer heißen – durch die Altmark. Gesang erklingt aus hellen Kehlen: “Auf den Straßen, auf den Bahnen seht ihr Deutschlands Jugend ziehn. Hoch im Blauen fliegen Fahnen, blaue Fahnen nach Berlin. Links und links und Schritt gehalten, laßt uns in der Reihe gehn! Unsre Fahnen sich entfalten, um im Sturm voranzuwehn.”
Es ist der Schlager der Freien Deutschen Jugend von ihrem vorjährigen Deutschlandtreffen in der geteilten Reichshauptstadt Berlin. Die fröhlichen Sänger sind “Junge Pioniere”. Das ist die Kinderorganisation des DDR-Staatsjugendverbandes “Freie Deutsche Jugend”. Ihr oberster Führer ist Erich Honecker, der später Staatsratsvorsitzender, also Regierungsoberhaupt, der Deutschen Demokratischen Republik werden sollte. Die Jungen Pioniere schmettern das Lied in hoffnungsvoller Aufbruchsstimmung, denn das Ziel ihrer Fahrt ist ein großes Sommerferienlager am Arendsee in der Altmark. Wer behält schon die vorüberfliegenden Namen der Bahnstationen! Es ist auch nicht wichtig. Ein jeder kommt schließlich aus einem dieser grauen Städtchen und Dörfer oder einer noch längst nicht trümmerfreien Großstadt der “Zone”, an deren neues amtliches Buchstabenkürzel “DDR” sich der Volksmund nur schwer gewöhnen will. Für die Kinder aber zählt allein, was ihre Sehnsucht zu erfüllen verspricht: der wunderbare See, die herrlichen altmärkischen Kiefernwälder, die grünen Wiesen und die neuen Kameraden. In Stendal erstürmt noch einmal ein großer Schwarm von Jungen und Mädchen, bepackt mit Tornistern, Brotbeuteln und Feldflaschen, die ihre Väter durch die halbe Welt getragen hatten, die Eisenbahnwagen. Ein nicht enden wollendes Winken zu den zurückbleibenden Müttern und Geschwistern und weniger zahlreichen Vätern -, und die Dampflok hat wieder volle Fahrt gewonnen. Gero sitzt eingeklemmt von Marschgepäck und Reisegefährten am Fenster. Zum Glück hat er in Magdeburg einen Fensterplatz erwischen können. Das Stampfen der Lok versetzt ihn in eine innere Spannung, die sich durch die schöner werdende Landschaft ein wenig löst; denn die Magdeburger Börde, wohin seine Familie nach dem Kriege verschlagen wurde, ist zwar ein fruchtbares, aber waldloses Ackerland. Bald richtet sich seine Aufmerksamkeit auf die Reisegefährten im Abteil. Wie er tragen die meisten das weiße Uniformhemd der Jungen Pioniere.
Gero kennt niemand von seinen Abteilgenossen, denn er hat als einziger seiner “Pionierfreundschaft” für “vorbildliche Gruppenarbeit” die Teilnahme am Pionierlager “Maurice Tourez” zugesprochen bekommen. Er hat noch keine rechte Lust, mit irgend jemand zu sprechen, denn er muß erst die vielen neuen Eindrücke verarbeiten. Das ist verständlich, denn es ist seine erste große Reise ganz allein, ohne jemand von seiner Familie. “Große Reisen” hat er allerdings in seinem jungen Leben schon hinter sich. Wenn seine Mutter – der Vater ist als Soldat in Rußland gefallen – mit anderen Schicksalsgefährtinnen in einer beengten Flüchtlingswohnung zusammentraf, und er als Jüngster der Geschwister mitgenommen wurde, hörte er die schrecklichsten und abenteuerlichsten Geschichten von Krieg, Flucht und unvorstellbaren Nöten, denen viele Millionen deutscher Menschen aus dem Osten auf ihrem Weg in das innere Deutschland ausgesetzt waren. Gero trägt es noch als dumpfe Erinnerung in sich.
Vor lauter neugierigem Betrachten des bunten Durcheinanders der sich auf “großer Fahrt” befindlichen Pionierscharen hat Gero den Vorgang des Umsteigens in die Nebenbahn nach Arendsee kaum wahrgenommen. Nun wird man wohl bald da sein, denn es geht bereits eine aufgeregte Unruhe durch die Reihen. Rucksäcke und Tornister werden griffbereit zurechtgestellt, und man schiebt und drängelt zu den Türen. Da tauchen auch schon die ersten Pensionshäuser und die Promenade unter hohen Parkbäumen auf. Die Wagenbremsen quietschen, der Zug hält schließlich mit einem leichten Ruck. Arendsee! Ein kurzer Augenblick vollkommener Ruhe, dann ergießen sich aus den Abteilen die lärmenden Kinderscharen auf den Bahnsteig. Die Gruppenleiter aus dem Lager bemühen sich sofort, aus dem Gewimmel Marschgruppen zu formieren. Gero wird unfreiwillig mitten in eine Marschgruppe hineingedrängelt und kommt erst vor einem jungen Burschen zum Stehen, der verkündet: “Jetzt sind wir vollständig, es kann losgehen!” Der junge Bursche stellt sich den Umstehenden als “Gruppenleiter Horst” vor und läßt abzählen. Es ist noch ein sehr junger Gruppenleiter. Unter seinem hellen Haarschopf lugen gutmütige Jungenaugen hervor, deren Blick beim Sprechen von einem zum andern seiner Gefolgschaft überwechselt. Horst trägt das Blauhemd der “Freien Deutschen Jugend” mit der aufgehenden Sonne auf dem Ärmel und die kurze dunkelblaue Hose. Die Gruppe – alles Jungen – folgt ihm nun durch die Sperre und die Bahnhofshalle auf den Bahnhofsplatz. Dort wird in Zweierreihe angetreten, kehrtum gemacht, und als die Gruppe sich im Gleichschritt gefunden hat, steigt aus der Führungsspitze das Lied: “Jugend erwach, erhebe dich jetzt, die grausame Nacht hat ein End, und die Sonne schickt wieder die Strahlen hernieder vom blauen Himmelsgezelt. Die Lerche singt frohe Lieder ins Tal, das Bächlein ermuntert uns all. Und der Bauer bestellt wieder Acker und Feld, bald bläht es allüberall. Bau auf, bau auf, bau auf, bau auf, Freie Deutsche Jugend, bau auf! Für eine bess’re Zukunft richten wir die Heimat auf!”
Durch Gesang verkürzt sich der Weg, der die Jungen nun schon weit in einen Kiefernwald geführt hat. Plötzlich Geschrei vorne: “Da die Zelte, hurra wir sind da!” Horst lacht: “Noch nicht ganz, wir müssen erst noch durch die ,Sandwüste’!” Und tatsächlich fährt der Weg an den weißgrauen Hauszelten vorbei, denn der Lagereingang befindet sich am entgegengesetzten Ende. Endlich erscheint das große, aus Knüppelholz errichtete Lagertor mit dem gewölbten Bogen, dessen Querstreben die Worte MAURICE TOUREZ, den Namen des kommunistischen Parteifßhrers Frankreichs, bilden, beidseitig geschmückt durch das Abzeichen der Jungen Pioniere mit der Fackelflamme. Nachdem die Jungen das Lagertor durchschritten haben, befinden sie sich schon bald in der “Sandwüste”. Die “Sandwüste” ist der Versammlungsplatz des Lagers, erklärt Horst. Der Platz liegt in einer Geländesenke, deren Grasnarbe durch ständiges Begehen spurlos verschwunden ist, so daß der nackte altmärkische Sand zu Tage tritt, in den man knöcheltief einsinkt und sich die Schuhe vollschöpft. Jemand in der Gruppe fragt vorwitzig: “Gibt es hier auch Kamele?” Horst erwider augenzwinkernd: “Ja, ab und zu zweibeinige!”, worauf die Gruppe in Heiterkeit ausbricht. Während die Jungen durch den Sand waten, erklärt Horst die Bedeutung der einzelnen Baracken, die sich um den Platz befinden: “Rechts ist die Verwaltung mit der Krankenstation, links die Speisebaracke, geradeaus die Waschbaracke mit den Latrinen.” An der Waschbaracke betreten sie wieder festen Boden, denn der Weg fährt weiter in den Kiefernwald hinein, wo die abgefallenen Nadeln einen etwas glatten Teppich bilden, der die lockere Sandschicht zudeckt.
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Als nach einigen Minuten die ersten Hauszelte wieder auftauchen, die links und rechts von einer Kiefernwaldschneise aufgeschlagen sind, verkündet Horst: “Hier beginnt euer Lagerbereich, wo ihr eure Zelte habt.” Endlich sind sie da. Horst läßt die ganze Gruppe in Frontstellung antreten und notiert sich die abgezählte Zahl und den Namen eines jeden in seinem Notizbuch. Nach jeweils 10 Jungen nennt er die Nummer des für sie bestimmten Zeltes; sie können abtreten. Im ganzen war die Marschgruppe 50 Jungen stark. Bevor sie zu ihren Zelten gehen, gibt Horst noch einige Anweisungen: “Um 6Uhr ist Wecken und Antreten zum Frühsport, dann Waschen; um 7 Uhr Frühstück und um 8 Uhr Lagerappell in der ,Sandwüste’.” Horst verabschiedet sich vorläufig bis zum Abendessen mit dem Pioniergruß “Seid bereit!”, und die Pioniere antworten ihm “Immer bereit!”, wobei sie die flache Hand steil über die rechte Schläfe setzen. Dann geht er zurück zu den Lagergebäuden auf dem selben Weg, den man gekommen war.
Horst ist wie viele der neuen Jugendführer in der “Hitler-Jugend” groß geworden. Er war beim Zusammenbruch des nationalsozialistischen Deutschland noch zu jung gewesen, um von jeglicher Staatsjugend “die Nase voll” zu haben. Wie die meisten von ihnen denkt auch er, daß sich zwar durch die Kriegsniederlage die Staatsführung geändert hat, aber die bändische Art des Jugendlebens eine gute Sache sei, wohl wissend, daß der neue Staat, dem er als Jugendfunktionär dient, ein kommunistischer ist. Aber das liegt doch nur daran, weil Deutschland besiegt und besetzt ist und in Besatzungszonen aufgeteilt wurde. Daß Deutschland wieder eins und frei wird, und die Besatzungsmächte abziehen, ist für ihn nur eine Frage der Zeit, denn Hitler ist tot, und nach den Erklärungen der Siegermächte soll Deutschland wieder frei und eins werden. Auch die Regierungen in den Besatzungszonen wollen das. Das glaubt Horst, der kommunistische Jugendfunktionär. Gero bezieht mit neun anderen Kameraden das zugewiesene Zelt. Die Jungen einigen sich schnell hinsichtlich der Lagerstätten. Es sind Strohsäcke auf Zelttuch mit vier Decken, die vorschriftsmäßig von den Vorgängern zurechtgelegt wurden. Selbstverständlich sucht man sich auf den ersten Blick den angenehmsten Nachbarn aus. Der Innenraum des Zeltes ist in zwei Bettreihen eingeteilt, zwischen denen sich ein schmaler Gang befindet. Der “Affe” – Tornister oder Rucksack – landet auf dem Lager. Die ersten Berührungsgespräche kommen auf: “Mensch, aus Pirna bist du, wo liegt denn das? Da bist du aber weit gereist!” Arno hatte wohl die längste Fahrt. “Wollen uns mal das Knusperhäuschen von außen ansehen!”, schlägt der witzige Bernd aus Weißenfels vor. “Guckt mal, die Vorgänger ham sich aber Miehe jemacht!”, so würdigt der Dresdener Karle den Zeltgarten, ein paar Quadratmeter Landes vor dem Zelteingang. Kieselsteine bilden die Umrisse einer “Friedenstaube” in der einen Gartenhälfte, in der andern steht das Wort FRIEDEN.
Die freien Flächen sind liebevoll geharkt, doch übersät von “Kienäpfeln”, den kugeligen Samenzapfen der Kiefern, die geradezu zu einer zünftigen “Kienäppelschlacht” herausfordern. Alle Jungen sammeln sogleich davon, soviel sie tragen können, und die Schlacht geht los. Und nicht nur Geros Zelt kämpft. Schon geht es Zelt gegen Zelt, das wie eine Burg verteidigt wird, aus deren Schutz man Angriffe gegen die anderen Zeltkameraden fährt. Ein Heidenspaß das Ganze, obwohl ein Treffer auf den nackten Waden ganz schön brennt! Inmitten dieser Ausgelassenheit erscheint wieder Horst. Die Jungen halten ein und gruppieren sich. Horst will zwar nicht den Spaß verderben, mahnt aber: ” Paßt auf, daß es nicht mal ins Auge geht! Doch jetzt wollen wir erstmal zum Essen, da ihr doch sicher schon mordshungrig seid.” Mit seinen Jungen zieht Horst, wie andere Gruppenleiter mit ihren Anvertrauten, in Richtung “Sandwüste”, wo sich die große Eßbaracke befindet. Dort sind schon viele Jungen und Mädchen zusammengeströmt, die aufgeregt lärmen und mit ihren Eßgeschirren klappern.
Nachdem jeder eine abgemessene Menge an Brot, Wurst und einen Schlag Grießsuppe empfangen hat, kehrt allmählich die übliche “gefräßige Stille” ein. Es gibt als Nachspeise sogar eine Packung gepreßter, klebriger Datteln, was Gero in seinem Brief nach Hause nicht zu erwähnen vergißt, da derlei Südfrüchte der Nachkriegsjugend in der DDR nahezu unbekannt sind, und die Datteln gewissermaßen die Mutter daheim von der vorzüglichen Lagerkost überzeugen. Denn so etwas gibt es sonst nirgendwo in den Geschäften. Nach dem Essen und einer kurzen Freizeit versammeln sich die Gruppen zum Lagerappell, der in der “Sandwüste” in rechteckiger Aufstellung vor einem großen Fahnenmast stattfindet. Alle leitenden Personen des Lagers haben vor dem Mast unter der im lauen Abendwind wehenden blauen Pionierfahne ebenfalls Aufstellung genommen. Nacheinander treten nun die Gruppenleiter vor und machen Meldung über ihre angetretenen Gruppen. Der nicht mehr junge Lagerleiter ergreift danach das Wort zur Begrüßung und spricht über Sinn und Durchführung des Lagers: “Meine lieben Jugendfreunde, ich begrüße euch mit einem freundschaftlichen ,Seid bereit!’ (aus den Reihen hallt es wider: “Immer bereit!”)!
Das Bezirkskomitee der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands hat mich mit der ehrenvollen und verantwortungsreichen Aufgabe betraut, das Sommerlager der Jungen Pioniere in Arendsee zu leiten und zu gestalten. Seid euch jederzeit bewußt, daß nur die Partei der Arbeiterklasse nach ihrem Sieg über die kapitalistischen Kriegstreiber und Hitlerfaschisten euch dieses fröhliche Jugendleben gewährleistet! In Westdeutschland leben die Kinder dagegen in Not und Elend. Sie kennen keine Ferien, weil sie bei den Schlotbaronen Geld verdienen müssen, um nicht zu verhungern. Daß es euch nicht so geht, verdankt ihr der heldenmütigen Befreiung durch die Soldaten der glorreichen Sowjetarmee und dem tatkräftigen Aufbau des Sozialismus in unserer Republik, wo die Arbeiter und Bauern nun regieren. Das aber will die Adenauerclique in Westdeutschland nicht, die wieder unsere Fabriken in die Hände der Ausbeuter legen will. Deshalb rüstet sie mit Hilfe der USA zu einem neuen Atomkrieg. Die westdeutsche Jugend soll Kanonenfutter für die imperialistischen Abenteurer und Revanchisten spielen. Aber die Solidarität des Weltfriedenslagers, an der Spitze die friedliebende Sowjetunion, ist der Garant einer friedlichen Entwicklung in unserem Land und in der ganzen Welt. Deshalb fordern wir: Deutsche an einen Tisch und Schluß mit dem Napalmkrieg in Korea! Korea den Koreanern! (Irgendein Kamel im Hintergrund ergänzt: “Und Indien den Indianern!”) In den kommenden Wochen werdet ihr den Vorzug genießen, in einer großen Pionierrepublik fröhliche und glückliche Tage zu verleben, Freundschaften zu schließen, Sport und Spiel zu pflegen sowie sich musisch und wissenschaftlich zu betätigen. Dazu wünscht euch das Bezirkskomitee der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands und die Leitung des Pionierlagers ,Maurice Tourez’ allseitigen Erfolg!” Abschließend gibt es noch Hinweise auf die allgemeine Lagerordnung und das Veranstaltungsprogramm. Dann senkt sich die große Pionierfahne, die beim Morgenappell wieder aufgezogen wird, zitternd am Seil des Mastes herunter bei feierlichem Gesang der Pionierhymne:
“Junge Pioniere kennen nur eins: die Tat; Junge Pioniere bauen den neuen Staat. Ehre dem, der etwas leistet, dem Schmarotzertum erklären wir den Krieg! Ja, Junge Pioniere, immer vorwäts zur Arbeit, zum Sieg” “Seid bereit! – Immer bereit!” hallt es noch einmal über die “Sandwüste”. Nun haben die Mädchen und Jungen Freizeit bis zur Bettruhe.